Editionsunternehmungen oder hilfswissenschaftliche Institutionen? Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte der österreichischen Literaturarchive 1878-1918.

Autor(en)
Julia Danielczyk
Abstrakt

Vorliegender Aufsatz beleuchtet den historisch-politischen Kontext, in dem Überlegungen und Theorien zur Einrichtung von Archiven für Literatur in Österreich formuliert und diskutiert wurden. Im Sinne eines nationalen Selbstverständnisses, das sich nach 1848 vermehrt über kulturelle Werte definierte, gewannen literarische Archive unter identitätsstiftender Perspektive neue Bedeutung.

Auch in Deutschland verwies ¿ vor allem ab Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 ¿ die Einrichtung des Goethe-Archivs in Weimar mit einem eigenständigen Gebäude (1886) auf die neue Wahrnehmung literarischer Handschriften als ¿kulturelles nationales Erbe¿. Zu dieser Zeit gewannen Autographen auch als Textgrundlage für editorische Projekte neue Bedeutung. Die ersten theoretischen Überlegungen zur Konzeption organisierter Literaturarchive kamen von Wilhelm Dilthey, der 1889 seinen programmatischen Vortrag ¿Archive für Literatur¿ veröffentlichte.

Auch in Österreich gab es zahlreiche Überlegungen, ein Archiv für Literatur einzurichten. Vor dem Hintergrund des Definitionsversuchs von österreichischer Literatur (als deutschsprachige Literatur) wurden verschiedene Institutionalisierungsmodelle entwickelt. Einerseits bot das 1854 gegründete Institut für österreichische Geschichtsforschung Orientierungshilfe, andererseits waren Editionsinitiativen, wie etwa der Stuttgarter Literarische Verein vorbildhaft.

Wesentliche Exponenten dieser ¿Bewegung¿ in Österreich waren Carl Glossy, 1889 bis 1904 Direktor der Wiener Stadtbibliothek, der Prager Literaturhistoriker August Sauer sowie der Wiener Literaturwissenschaftler Jakob Minor. Sie gründeten im Jahr 1903 den Literarischen Verein in Wien, der sich sowohl als Editionsunternehmen als auch als Literaturarchiv verstand. Ein eigenes Gebäude korrespondierend zum Weimarer Goethe-Archiv war ebenfalls eine gewünschte Zielvorstellung.

Parallel dazu wuchs auf kommunaler Ebene in der Wiener Stadtbibliothek eine Sammlung heran, deren Grundstock der 1878 übergebene literarische Nachlass von Franz Grillparzer bildete. Die Handschriftensammlung der Wiener Stadtbibliothek erwarb systematisch literarische Autographen und Nachlässe, so dass sie sich ¿ als sich mit dem Ersten Weltkrieg sämtliche Vorhaben für ein österreichisches Literaturarchiv zerschlagen hatten ¿ als repräsentative Sammlung mit bedeutenden Beständen zur österreichischen Literatur behaupten konnte und die wesentlichen Aufgaben eines Archivs für Literatur übernommen hatte. Heute gilt sie als das älteste österreichische Literaturarchiv.

 

Vorliegende Untersuchung bietet erstmals ein zusammenhängendes Bild über die historische Entwicklung des Zusammenwirkens literatur- und editionswissenschaftlicher Interessen und über die damals aufgeworfenen bibliothekarischen Überlegungen für die Einrichtung österreichischer Literaturarchive im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert

Organisation(en)
Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft
Journal
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur
Band
33
Seiten
102-144
Anzahl der Seiten
42
ISSN
0340-4528
DOI
https://doi.org/10.1515/iasl.2008.018
Publikationsdatum
04-2009
ÖFOS 2012
508003 Bibliothekswissenschaft, 602031 Literaturgeschichte
Link zum Portal
https://ucrisportal.univie.ac.at/de/publications/0652ff16-1d05-4848-9d5e-8d0071abde6b