Travelling Gestures. Elfriede Jelineks Tragödienfortschreibungen aus transdisziplinärer Perspektive


Elise Richter-Projekt
Projektleiterin:
Dr. Silke Felber
Laufzeit: 17.6.2019-16.6.2021
Fördergeber: FWF

 

Projektbeschreibung:

Die Forschung zu Elfriede Jelinek, Österreichs einziger Literaturnobelpreisträgerin, hat sich in den letzten Jahren zu einem fast eigenständigen Gebiet der germanistischen Literaturwissenschaft, aber auch der internationalen Theaterwissenschaft entwickelt. Umso erstaunlicher ist es, dass die intertextuellen bzw. –strukturellen Bezüge auf die theatrale Diskursform der Tragödie, die Jelineks Theatertexte seit Ein Sportstück (1999) quasi ausnahmslos prägen, bislang noch nicht systematisch aufgearbeitet worden sind. Das vorliegende Projekt intendiert, diese Forschungslücke zu schließen und die daraus resultierenden Ergebnisse in die Jelinek-Forschung, in den wissenschaftlichen Diskurs zum so genannten postdramatischen Theater (Lehmann) sowie in die aktuelle Theoriedebatte zur Rückkehr des Tragischen einzuspeisen. Das Vorhaben stützt sich auf die Prämisse, dass Jelineks Tragödienfortschreibungen auf einem von Montage und Zitat inspirierten Modus der Unterbrechung basieren und somit als gestisches Theater gefasst werden können. Mit Samuel Weber, der im Rekurs auf Walter Benjamin festhält, dass Gesten nicht ausgeführt, sondern nur aufgeführt werden können, wird davon ausgegangen, dass Jelineks Tragödienfortschreibungen genuin an eine performative Aufführung gebunden sind und nicht losgelöst davon analysiert werden können. Im Fokus steht die Frage, welche Gesten diese Texte im Berühren virulenter Themen hervorbringen und wie sich solche Gesten in bestimmten Aufführungen materialisieren. Wie verfahren Text und Aufführung mit strukturellen Bauteilen der Tragödie (Prolog, Epilog, Botenbericht, chorischen Passagen etc.)? Welche demokratiepolitischen, natio-ethno-kulturellen und genderspezifischen Diskurse werden dadurch aufgegriffen? Welche Zeiten und Räume erscheinen durch den Rekurs auf affektive Gesten wie jene der Klage, der Schmähung oder der Rache in einem Bild? Welche Reiserouten können zwischen antikem Prätext, Fortschreibung und Aufführung nachgezeichnet werden und welche intermedialen Prozesse stehen damit in Zusammenhang?

Ausgehend von diesen Fragen werden Jelineks Tragödienfortschreibungen sowie ausgewählte Aufführungen dieser Texte transdisziplinär ausgerichteten Cross-Readings unterzogen, die sich an der Schnittstelle von literatur- und theaterwissenschaftlichem Erkenntnisinteresse befinden. Entwickelt wird ein innovatives Analyseinstrumentarium für ästhetische Produktionen, denen mit Modellen der herkömmlichen Dramen- und Aufführungsanalyse nicht (mehr) gerecht werden kann. Die methodenpluralistische Arbeit verknüpft im Rückgriff auf das Phänomen der Geste Tragödienforschung mit Ansätzen der Performance Studies, der politischen Theorie, der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Affect Studies sowie einer im Entstehen begriffenen Theorie von Invektivität. „Geste“ wird in diesem Zusammenhang im Sinne Mieke Bals als Travelling Concept begriffen, das zwischen unterschiedlichen Disziplinen, aber auch zwischen Text(en) und Aufführung(en) changiert.

Die erstmalige systematische Aufarbeitung der Tragödienbezüge bei Jelinek berührt zentrale soziopolitische Diskurse unserer Zeit, stellt diese in einen historischen wie globalen Kontext und versteht sich somit als gesellschaftlich relevante Grundlagenarbeit.

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